Wir freuen uns nach einer längeren Pause, die organisatorische Gründe hat, unsere Veranstaltungsreihe an einem anderen Ort und unter neuem Namen wieder fortzuführen. Forum Wissenschaft, das bisher Forum Forschung hieß, findet nicht mehr im schönen, aber etwas abgelegenen Aby Warburg Haus in der Heilwigstraße statt, sondern im „Pferdestall“ am Allende-Platz 1 auf dem Campusgelände. Von der „Rückkehr“ in den Pferdestall und seiner zentralen Lage erhoffen wir uns, ein größeres Publikum für unsere Veranstaltungen zu gewinnen. Der neue Name „Forum Wissenschaft“ soll das Themenspektrum erweitern. Zu unserer Veranstaltungsreihe laden wir neben jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die ihre Forschungen vorstellen, nun auch Gäste ein, die beispielsweise über Themen aus den Bereichen Wissenschaft und Beruf oder Studium und Lehre sprechen werden.
Die Auftaktveranstaltung im „Pferdestall“ war gut besucht. Vor rund 20 interessierten Teilnehmern sprach die Diplom-Soziologin Melanie Haller über ein für die meisten noch neues Spezialgebiet der Soziologie: die Körpersoziologie. In einer ersten Positionsbestimmung erläuterte Melanie Haller den kulturtheoretischen Ansatz einer Körpersoziologie, deren Ursprünge von Autoren wie Norbert Elias, Pierre Bourdieu oder Michel Foucault beeinflusst sind. Dem in der Soziologie zentralen Begriff der Interaktion liege beispielsweise ein jeweils bestimmtes Verständnis von sozialen Handlungen und ihren Akteuren zu Grunde. In der Regel sind Akteure gemeint, die zielorientiert und absichtsvoll handeln. Dieses Verständnis geriete durch körpersoziologische Perspektiven, wie sie etwa Bourdieu oder Foucault vertreten, zunehmend ins Wanken. Hier schließen verschiedene Ansätze einer Körpersoziologie an und fragen nach sozialen Subjekten und den sie leitenden Kultur- und Körperpraktiken. Subjekte lassen sich aus dieser Perspektive nicht durch Merkmale wie „bewusst“, „rational“ und „intentional“ beschreiben. Nach körpersoziologischen Ansätzen konstituieren sich Subjekte vielmehr durch soziale Einschreibungsprozesse und erworbenes „Körperwissen“.
Anhand von Filmausschnitten und Interviews erläuterte Melanie Haller ihren Zuhörern anschaulich, wie sich im Tango Übereinstimmung herstellt. Nach Auswertung des empirischen Materials ihrer Studien unterschied sie analytisch zwischen
a) Übereinstimmung als körperliche Praktik und
b) Übereinstimmung als Diskurs.
a) Den Tango Argentino beschrieb sie als eine „dynamische Grundordnung“, deren körperliche Praktiken und Techniken zu Übereinstimmung führen, wenn sie über lange Zeit eingeübt werden und in die Körper „eingeschrieben“ sind. Die Musik, der Grundschritt, in dem es Führende und Folgende gibt, sind soziale Rahmungen, auf Grundlage derer über eingeschriebenes Körperwissen das „tänzerische Ideal“ und damit Übereinstimmung erst möglich wird. In den Filmbeispielen konnten die Teilnehmer die körperlichen Praktiken, etwa als eingeschriebene Handbewegung, eindrucksvoll nachvollziehen. Haller: „Tango Argentino lässt sich als eine Praktik verstehen, deren Bewegungsprinzipien erst in die Körper eingeschrieben werden müssen, bevor er in der Art getanzt werden kann, wie sie in einem idealen Konzept des Tango als Illusio des Feldes vorgestellt werden.“
b) In den Interviews waren die Befragten dazu aufgefordert, in Worten zu beschreiben, was der besondere Reiz am Tango Argentino sei. Melanie Haller ermittelte aus dem Interviewmaterial drei Diskursebenen, die beschreiben, wie sich im Tango entweder Übereinstimmungen herstellen oder es zu Unstimmigkeiten kommt: Aussagen wie „Man muss sich einlassen können“ verweisen auf Anforderung an den Einzelnen (erste Ebene). Die Stimmigkeit und das Gelingen der Paarkonstellation (zweite Ebene) beschreiben die Befragten damit, dass es „Wechselwirkung des Wohlfühlens miteinander gibt“, „dass die Chemie stimmt“, es „Verschmelzungserlebnisse“ gibt oder man das „Fließen der Harmonie spürt“. Das Scheitern der Paarkonstellation (dritte Ebene) tritt dann ein, wenn zum Beispiel „nicht klar ist, was der Führende will“, „Frauen sich nicht führen lassen“, „Männer nicht mehr führen können“ oder „jemand einem Figuren aufzwängt“.
Interaktionen lassen sich demzufolge nicht mehr nur als Kommunikation zwischen rationalen Akteuren beschreiben, sondern, wie Melanie Haller am Beispiel der Tanzkultur Tango gezeigt hat, als Herstellung von Übereinstimmung durch körperliche Praktiken. „Ein Phänomen von gelungener Übereinstimmung oder das Verstehen einer Bewegungsaufforderung liegt in einem gemeinsam geteilten, inkorporierten Körperwissen und dessen Vermittlung über inkorporierte Führungs- und Folgesignale, welches mit einem klassisch soziologischen Interaktionsbegriff nicht zu erklären sind“, konstatierte Haller in den weiteren Ausführungen zu ihren empirischen Studien über den Tango Argentino.
Eine lebhafte Diskussion über Tango, Körpersoziologie und die Bedeutung des Subjektbegriffs in der Soziologie schloss sich dem hervorragenden Vortrag von Melanie Haller an. Der Abend endete bei Brezeln und Wein; und die anregenden Gespräche werden vielen ebenso gut wie die „körperlichen Praktiken“ in Erinnerung bleiben.